Startseite

zurück zur Übersicht

Good morning STEINFELD !
Kolumne zum Wochenbeginn
Numero 144

ocs

Das Urteil ist ergangen.

Das Volk hat wieder mit seinem Namen dafür hergehalten,
wie immer wenn bei uns geurteilt wird.
Die beiden jungen Männer grinsen breit,
ihre Verteidiger, die ihre Pflicht taten,
sehen erfolgreich aus.
Ein wenig scheu reichen sie erst einander
dann ihren Mandanten die Hand.
Freispruch
– den beiden konnte die Tat
nicht zweifelsfrei zugeordnet werden,
vor Gericht !

Den Opfern schon !

Sie sind beide nicht da,
eine von ihnen ist weit weg,
in einer anderen Stadt.
Die andere hat die Stadt nie verlassen,
so wie sie nie verließ, was sie erlebte.
Nun lebt sie nicht mehr.

Die letzten Monate vor ihrem Tod
beschäftigte sie sich nur noch mit der Technik,
sich selbst zu töten.

Das war sehr zielführend.

Eine Woche vor ihrem 19.Geburtstag hatte sie Glück.
Zwei Mal zuvor nicht,
sie wurde gefunden, bevor sie erreichte,
wonach sie sich seit jener Silvesternacht
so unendlich sehnte
– Frieden und Freiheit.

Zwei gezielte Längsschnitte führten nun zum Ziel.
Endlich !

Ein Mann sitzt im Gerichtssaal,
grau meliert, kräftig, Brille, „gepflegtes Äußeres“,
bewegungslos, fast asketisch sein Gesicht - wachsgleich.

Als der Urteilspruch ergeht scheint es,
als würde das wenige Blut,
was sich bis dahin noch hinter seiner Haut vermuten ließ
nun vollends im tiefen Inneren seines Körpers verschwinden.

Sein Blick geht ins Leere,
die Blicke aller Sicherheitsbeamten im Saal sind auf ihn gerichtet.
Er weiß das !
Nichts regt sich bei ihm.
Er scheint nicht wahr zu nehmen,
wie seine Frau neben ihm unter Tränen zusammensackt.
Er hört nicht das widerspenstige Raunen des Publikums,
nicht die Auslöser der Kameras.
„Nicht bewegen ! Keine Regung zeigen !“,
durchrast es sein Hirn.

Der Saal leert sich !

Der grau Melierte stützt seine Frau,
umringt von ein paar Medienleuten
bahnt er sich den Weg hinaus vor das Gericht.

Dort sind die beiden freien Männer
gerade von ihren Familien empfangen worden.
Doch das kann der Mann nicht sehen.
Zu dicht ist dort die unüberschaubare Meute aus „Nachrichtenleuten“.

Gerade will er in sein Auto steigen,
als sich eine Frau aus dem Mob um die frei Gesprochenen löst
und auf ihn zukommt.

Er sieht sie nicht,
nur das entsetzte Gesicht seiner Frau,
die ihm über die Schulter sehen kann,
verrät ihm, daß es besser ist sich dem zu zuwenden,
was dort von hinten kommt.

Bevor er begreift was geschieht,
hat ihn die Frau aus der Menge bereits an der Schulter gepackt
und zu sich herum gerissen.

Hass blickt ihm entgegen
aus den schwarz erscheinenden Augen.

Wild brüllt die Frau,
so unbändig,
dass kaum ein Wort zu verstehen ist.

Sie schlägt, spuckt, versucht zu treten,
doch ihr bodenlanges Kleid verhindert Wirkungstreffer.

Der Mann wehrt sie ab,
Polizisten springen hinzu,
er befreit sich von ihr
und sinkt ins Auto.

„Ail !“, lautet seine sms
in die weit entfernte Stadt.

All is lost – auch die Gerechtigkeit.

Drei Stunden später sind sie bei Tochter und Enkel.
Beide können nicht allein sein.
Die Kasse zahlt den Therapeuten
- zum Glück !

Silvester ist wieder vorbei,
seit einer Woche.

Die junge Frau ist „austherapiert“.

Sie hat kaum körperliche Zeichen der harten Vergewaltigung
jener Silvesternacht vor zwei Jahren
aber sie ist emotional zum Krüppel geworden.

Keine Bindungsfähigkeit mehr,
kein klar definiertes Mutterverhalten.

Sie kämpft um ihr Leben,
nicht physisch.
Sie hat eine Freundin.
Ihr Sohn ist nur noch selten bei ihr.
Nächstes Jahr kommt er zur Schule.
Oma und Opa kümmern sich.

Da war noch ein anderer Mann im Gerichtssaal.

Anfang 50,
schon etwas mehr als grau meliert.

Auch auf ihm lag die Aufmerksamkeit der Beamten
als das Urteil erging,
auch er rührte sich nicht.

Keiner sah den kurzen Blickwechsel
zwischen den beiden Männern nach dem Urteil.

Kaum einer sah,
wie dieser Mann unauffällig durch den Hinterausgang
das Gericht verließ.

Er brauchte keine sms zu versenden.
Auch für ist nun Silvester vorbei,
seit einer Woche.

Doch sein Enkel wird nicht eingeschult.
Er hat keinen.
Er hat nichts außer Zeit und die hat er genutzt.
Ein Jahr lang hat er gewartet,
eher gelauert.

Einer der jungen Männer verschwand nach dem Urteil,
auch die Familie.

Der andere nicht.
Dieser blieb da und wie er war.
Der zweite Mann wusste alles über ihn.

In den Nachrichten ist Meldung Nummer 1
der Tod eines jungen Mannes.

Ein „Tötungsdelikt“ wird nicht ausgeschlossen,
die Ermittlungen laufen auf Hochtouren,
eine Sonderkommission wurde gebildet.

Opa und Oma sehen die Nachricht gemeinsam.
Der Enkel liegt schon im Bett.
Er sieht nicht,
wie sich beide in Armen liegen und weinen.

Zwei Tage später wird ein Anfang Fünfzigjähriger festgenommen.
Inzwischen ist bekannt,
dass der Tote vor einem Jahr
in einem spektakulären Vergewaltigungsprozess frei gesprochen wurde.

Im anschließenden Indizienprozeß
wird der Mann zu über 10 Jahren Haft verurteilt.
Das Strafmaß wurde annähernd ausgeschöpft.
Der Verurteilte geht nicht in Revision.

7 Jahre später !

Ein Endfünfziger steht vor der Vollzuganstalt und wartet.

Sein Haar ist weiß, er trägt eine Brille.
Ein anderer Mann verlässt „wegen guter Führung“
soeben und vorzeitig die Anstalt.

Er hat keine Haare mehr und keine Brille.
Die Männer umarmen sich wortlos.
Sie gehen zum Parkplatz.
Der liegt hinter dem Gerichtsgebäude gleich neben dem Knast.
Es ist Verhandlungstag.

Eine Menge Schlipsträger
eilen geschäftig über die breite Treppe vor dem Gericht.
Ein junger Anwalt ist auch darunter.
Eine Nachbarschaftssache wartet auf ihn.
Die Kanzlei will ihn langsam aufbauen.

Er ist einer von diesen
erfolgreichen, strebsamen, ehrgeizigen jungen Leuten,
die auch aus dieser Stadt
einen Teil des „global village“ machen.

Vor 5 Jahren mit der dritten großen Flüchtlingswelle ins Land gekommen.
Keine Papiere,
traumatisiert
– das Übliche.

Ein junger Vorzeigejurist.
Die Staatsanwaltschaft hat ihn schon im Blick.
Doch er will Richter werden.

Fast akzentfreies Deutsch,
gepflegt, elegant, intelligent.
Was soll schief gehen !

Für niemanden unterscheidet er sich
von den vielen anderen,
außer für die beiden Männer.

Es wird etwas schief gehen
– irgendetwas geht immer schief.

Der junge Anwalt wird keine dreißig
und ein Endfünfziger mit Brille
wird wegen eines Tötungsdeliktes verurteilt werden.

Ein alter Mann mit Glatze
wird einen alten Mann mit Brille vor einer Vollzugsanstalt abholen.

Ein Enkel wird dabei sein
und eine Tochter ist dann seit vielen Jahren
mit ihrer Freundin verheiratet
erschöpft – melancholisch.

Eine Silvesternacht kann viel verändern,
mit oder ohne Vorsatz.

Nichts ist wahr an dieser Geschichte,
alles erdacht.

Niemand könnte einer der beiden älteren Herren sein !
Niemand einer der beiden jungen Männer !
Niemand eine der vergewaltigten Frauen !

Niemand !

Nicht hier !
Nie !

Have a nice week !

M. Eckart, ocs

Kontakt

Impressum: ©imutta